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XIX. Wirbelsäule-Lebenssäule

Der Begriff Lebenssäule verbindet zwei zunächst gegensätzlich erscheinende Vorstellungen, nämlich Leben als etwas Dynamisches und Säule als etwas Statisches. Das Leben bedeutet Bewegung und selbst über den Tod hinaus kreisen die Elektronen um den Atomkern. Eine Säule besteht solange sie in sich ruht. Sie trägt nicht nur ihr eigenes Gewicht, sondern definiert sich im Allgemeinen durch ihre Aufgabe, eine andere Last zu tragen.

Überfordert in ihrer Tragfähigkeit wird sie brüchig und schwach. Wenn ihre Lebenszeit abgelaufen ist, gibt sie ihre Bestandteile wieder in den Kreislauf des Lebens. Stolze Paläste beugen sich zur Erde und werden wieder zu Staub. In diesem Wechselspiel zwischen Bewegung und Ruhe, dynamischer und statischer Kraft sucht unsere Wirbelsäule ihr Gleichgewicht. Während ihrer Erschaffungsphase bewegt sich die Wirbelsäule gewichtslos im mütterlichen Lebenswasser. Doch nach einigen Monaten zieht es den, für den aufrechten Gang bestimmten, Menschen seiner Bestimmung entgegen. In den ersten drei Jahren lebt gemäß der indischen Philosophie der Geist Shivas, laut Rudolf Steiner der Christusgeist, noch weitgehend unverhüllt in den Kindern.

Ihre Wirbelsäule ist kerzengerade aufgerichtet, frei beweglich und durchgängig. Die Schwerkraft der Erde und die Last der Welt hat sie noch nicht gekrümmt. Oft strahlt ein überirdisch anmutendes Licht durch ihre Augen, aus ihrem Herzen und ihrem ganzen Körper, wärmt die Herzen ihrer Mitmenschen und stimmt sie zuweilen etwas wehmütig in Erinnerung an ihren eigenen Ursprung oder eine in Vergessenheit geratene Vision oder Bestimmung.

Doch das Leben hat uns nicht nur als leuchtende Säulen geformt, sondern auch als dynamische Mitgestalter des Lebens, als eigenständige Träger von Verantwortung, als kreative Sucher neuer Wege, der inneren Sehnsucht nach Licht eine äußere Entsprechung zu schaffen. Und das Leben hat unsere Wirbelsäule dafür vorbereitet. Sobald wir die schützende und stützende mütterliche Säule verlassen, um auf eigenen Beinen, entgegen der irdischen Schwerkraft, unseren Weg ins Leben zu finden, passt sich unsere Wirbelsäule der für sie vorgesehenen Aufgabe an.

Mit 32 Knochen, 64 Gelenken und 26 Teilgelenken ist sie bereits bei der Geburt vorbereitet für Geschmeidigkeit und Flexibilität. Ihr Aufbau mit ständigem Wechsel von hartem Knochen und weichen Bandscheiben sowie den physiologischen Schwingungen in der Frontalebene ermöglicht eine federnde Belastbarkeit und eine rhythmisch schwingende, tanzartige Gangart. Der Zug der irdischen Schwerkraft trainiert ihre federnde Aufrichtungskraft und regt die Kreation immer neuer Tanzarten durchs Leben an. Die Aufrichtung der Wirbelsäule zum Menschen ermöglicht den weiten und planenden Blick nach vorn, aber auch das Übersehen des nahe liegenden, das Hochschauen zum Himmel, aber auch das Herabsehen auf niedrig scheinendes, die Verletzbarkeit des weichen Bauches, aber auch die Offenheit für Gefühlsaustausch bis hin zu direkter, ganzkörperlicher Verbindung. Und erst die kerzengerade Aufrichtung ermöglicht einen freien Energiefluss entlang der Wirbelsäule bei entspannter, vorderer und hinterer Haltemuskulatur und freier Atmung im Hals-, Brust-, Flanken-, Bauch- und Nierenbereich. Erst dann ist auch unser Bewusstsein ganz frei für konstruktive und erhellende Gedanken und Gefühle. Doch das Leben auf der Erde bedeutet auch Trennung und Mühsal.

Der Trennungsschmerz von der Geborgenheit im Schutze der mütterlichen Wirbelsäule und andere nicht tragende kindliche Erfahrungen schließen unseren Brustkorb oft zu eng um unser verschrecktes Herz. Wir verlernen frei zu atmen und zu fühlen. Oft lasten wir uns unbewusst mehr auf als unsere Wirbelsäule tragen kann und unsere Wirbelsäule verkrümmt sich unter der Last des Lebens. Fällt uns das demütige Beugen schwer, bricht womöglich ein hartes Schicksal unsere Halsstarrigkeit, krümmt unseren Rücken und zwingt unseren Blick wieder auf die Erde.

Vielleicht meinen wir auch, allein im Leben zu stehen und können uns nirgends anlehnen und entspannen. Wie eine Säule suchen wir unseren Lebenssinn darin Lasten zu tragen. Und nicht nur die von heute. Die meiste Last laden wir unserer Lebenssäule auf durch die Neigung nach vorne unter die erdachte Last von morgen oder nach hinten aus Angst den Halt von gestern loszulassen.

Auch in Beziehungen achten wir oft nicht auf das Vorbild der Säulen, die uns zeigen, dass erst der richtige Abstand zueinander und das in sich Ruhen jeder einzelnen Säule ein Gebäude tragfähig macht. Und wie viele Säulen schenken unserem Leben Sinn nur durch ihre Schönheit und ihren Verweis auf die Verbindung von Himmel und Erde.

Der Mensch, der sich entgegen der Last der Erde aufrichtet und im Bewusstsein der Polaritäten und der Tiefe des Lebens sein Leben tanzt, bereichert die Schöpfung mit ihren höchsten Sinn. Wir können dem Säugling nicht den Trennungsschmerz von der Mutter nehmen. Aber wir können unsere Kinder, unsere inneren Kinder und unsere Mitmenschen immer wieder liebevoll in den Arm und in den Schutz der Kraft unserer Wirbelsäule nehmen. Wir merken vielleicht nicht, wenn sich ein kleines Kind unbewusst die Last eines Erwachsenen oder die Verantwortung einer ganzen Sippe auf den Rücken lädt. Aber wir können uns bemühen, unsere eigenen Beschränkungen und unverarbeiteten Lasten nicht unbewusst an unsere Kinder und Mitmenschen weiterzugeben.

Wir sollen unseren Kindern und Mitmenschen auch nicht jede Last und damit eine Gelegenheit zum Wachstum abnehmen. Aber wir können ihnen eine Unterstützung anbieten, wenn ihre Kräfte versagen, wenn oder am besten bevor ihr Rücken sich krümmt und die Umgebung ihres Herzens sich verhärtet. Auch können wir uns nicht vor jeder unbequemen Last drücken und müssen auch, wenn unser Rücken zu brechen droht, manchmal die äußere Haltung bewahren und unseren Mann oder unsere Frau stehen.

Aber wir können uns bemühen, immer nur die Last des gegenwärtigen Augenblicks und diese mit dem Bewusstsein ihres Sinnes und ihrer Notwendigkeit zu tragen. Und damit können wir oft bereits die Not wenden. Eine mit Freude getragene Last ist oft gar keine Last mehr und zeigt uns ihren Sinn. Und ein Sinn ist es, zu lernen, das wir Liebe nicht erkaufen können und nicht zu erkaufen brauchen durch das Tragen von Lasten.

Ein Sinn ist es auch zu lernen, Unverdautes nicht herunter zu schlucken, sich nicht immer zu ducken, sondern auch Mal die Stirn zu zeigen, den Kloß im Hals oder die Wut im Bauch herauszuschreien und sich Manches auch den Buckel herunter rutschen zu lassen. Es ist auch sinnvoll und macht Spaß, sich durch ständiges Üben einen stabilen Halt in einem dynamischen Gleichgewicht zu verschaffen: auf der körperlichen Ebene durch eine kräftige, dehnbare und entspannte Muskulatur, auf der seelischen Ebene durch regelmäßig, gereinigte Energiekanäle und ein sensibles Körper- und Gefühlsbewusstsein und auf der geistigen Ebene durch eine freie, in ihrer natürlichen Ordnung zentrierte Persönlichkeit. Wir brauchen die Belastung aber nicht nur, um daran zu wachsen. Wir brauchen sie auch, um zu lernen Unterstützung anzunehmen und das Miteinander zu leben. Wir brauchen sie, um zu lernen, äußere und innere Kraftquellen frei zu legen und eine Verbindung zu werden für die Kräfte von Himmel und Erde.

Und wir brauchen sie, um die Phasen der Entlastung besser genießen und schätzen zu können, denn wie unsere Bandscheiben leben wir vom ständigen Wechsel angemessener Be- und Entlastung. Und dann ist das Leben auf der Erde nicht mehr nur eine Last auf unserem Rücken.

Die Erde trägt uns und wir lernen ihr, nicht nur im Liegen, das Gewicht unserer Last abzugeben. Die Erde mit der Kraft ihrer Elemente kann auch zur reinigenden und erfrischenden Quelle unserer Lebenskraft, der Schule unserer Aufrichtungskraft und dem Betätigungsfeld unserer Schöpfungskraft werden.

Ihre Schönheit und Vielfalt kann sich in unserer Lebensfreude ausdrücken und uns die Tür zum Erlebnis auch der inneren Schönheiten weisen. Der Schlüssel für diese Tür ist die freie Entfaltung unserer Wirbelsäule. Die aufrechte Haltung in Kopf und Becken und die Kunst frei und bewusst zu atmen öffnen das Tor für den freien Energiefluss in unserer Wirbelsäule, unserem ganzen Körper und in Kontakt mit unserer Umgebung.

Wir ruhen in einem stabilen und entspannten innerem und äußerem Gleichgewicht. Auch in Zeiten der Belastung verlieren wir nicht völlig die Verbindung zu innerem und äußerem Rückhalt und finden immer wieder schnell zurück zu unserer Mitte. In Zeiten der Ausgeglichenheit strahlen wir Ruhe, Kraft und Lebensfreude aus. Sind wir eingestimmt auf das Leben, wird unsere Wirbelsäule zu einem Kanal, über den uns in jeder Situation, die nötige Kraft gegeben wird, die wir für eine optimale Erfüllung unserer Aufgabe brauchen.

Diese kann darin bestehen eine Arbeit in genussvoller Konzentration und höchster Sorgfalt zu vollbringen, eins zu werden mit der Schönheit einer Landschaft oder der Stimmung eines Sonnenunterganges, sich in tiefer Stille von einer schönen Musik durchdringen zu lassen, gemeinsam entlang der Wirbelsäule atmend mit einem Partner zu gemeinsamen Höhenflügen zu verschmelzen, die Blume oder die Tiefe im Blick eines Passanten am Rande einer Straßenkreuzung zu sehen.

Mit der verbesserten energetischen Versorgung der, in und vor unserer Wirbelsäule gelegenen, Energiezentren verbessern sich auch die Versorgung unserer inneren Organe, unser Immunsystem, das hormonelle Gleichgewicht und die Wahrnehmungskraft der Sinnesorgane. Wir werden feinfühliger für die Energie in unserem Körper und unserer Umgebung, unseren eigenen und fremden, sowie den gemeinsamen Gefühlen und Gedanken, Schwachstellen und Stärken.

Mit den Augen und Ohren des Herzens sehen und hören wir in den Geschehnissen des alltäglichen Lebens Botschaften, Gleichnisse und den Sinn des Lebens. Mit dem freien Fließen der Lebensenergie in unser Wirbelsäule und der freien Entfaltung unserer inneren Wahrnehmungskraft relativiert sich auch die Dominanz von Denken, Wollen und Handeln in unserem Leben. Wir lernen die Schönheit und Stille unseres Da-Seins zu genießen und werden frei für die Berührung mit dem Ursprung und der Grundenergie allen Lebens, dem, was wir als Liebe bezeichnen.

Und das ist vielleicht die edelste Aufgabe unserer Lebenssäule: eine Ausdrucksform zu schaffen für die Schönheit und Liebe, die wir in uns spüren. So hängt also die Lebensqualität, die Lebensdauer und der Lebenssinn unser Lebenssäule ab von der einfühlsamen Pflege unseres Körpers, vom freien Fluss der Lebensenergie über unsere Wirbelsäule in den ganzen Körper und der freien Entfaltung unserer Seele.