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XI. Der Weg zur Mitte

Durch Einstimmung auf den Körper und den Atem können die Wände bröckeln, die uns von unserer Mitte und vom Du trennen.

Das Du erwartet uns in jedem Gegenüber, als Geheimnis des Lebens oder als Tor zu uns Selbst.

Es versteckt sich hinter unserer Angst, lockt uns in unserer Sehnsucht, berührt uns in unserem Atem und wartet hinter dem Spiegel unserer Projektionen, bis wir den Spiegel zerbrechen und in das Jetzt und unsere Mitte treten.

1. Das Jetzt

So wie Materie ohne die Anziehungskraft der Erde schwerelos ist,
ist vielleicht auch unser Bewusstsein ohne die Schwerkraft der Zeit schwerelos.

In der Aufhebung der Zeit entfallen die Belastungen und Ängste der Vergangenheit und die Sorgen um die Zukunft.

In der Aufhebung unserer gewohnten Sichtweise des Raumes fallen unsere Schablonen und öffnen sich neue Perspektiven.

Im Jetzt finden wir zu unserem Atem und unserem Körper, zu Sammlung und Ruhe und zur Begegnung mit dem was ist, dem Sein. 

Im Jetzt öffnet sich das Tor für die Begegnung mit dem Du.

Im Jetzt versteckt sich das Geheimnis des Lebens.

Selbst der stärkste Schmerz lässt sich manchmal durch immer schärfere Konzentration auf sein Zentrum im Jetzt auflösen.

Selbst von der größten Trauer bleibt im allertiefsten Moment manchmal nur ein tiefer, reiner Ton.

Die kürzeste Freude kann für einen Augenblick zur Ewigkeit werden.

Und die tiefste Liebe muss sich manchmal mit Augenblicken begnügen, Augenblicken, die der Gegenwart ihre Ewigkeit enthüllen.

2. Übung:

a Das Tor des Jetzt

Tauche immer wieder in den Augenblick ein, indem du dich gerade befindest.

Streife alle Gedanken ab, die etwas mit Vergangenheit und Zukunft zu tun haben,

alle Assoziationen zu dem, was du gerade erlebst.

Nimm diesen Moment, mit allem, was er enthält, immer genauer wahr.

Erkenne immer mehr von seinen Facetten und tauche immer tiefer in sein Zentrum.

Erkenne immer wieder für einen Augenblick das Geheimnis deiner Mitte, deine Verbindung zum Fluss des Lebens.

Haben wir diesen Geschmack für einen Augenblick gekostet, sind wir ihm verfangen.

b Der Fluss der Zeit

Surfe im Jetzt auf der Welle der Zeit.

Auch wenn deine Aufmerksamkeit gelegentlich in Vergangenes, in Bewertungen, Erwartungen und Hoffnungen abdriftet, bleibe mit deiner Mitte und deinen Füßen auf deinem Brett. Vertraue dem nie versiegendem Fluss der Zeit und lass dich tragen vom Atem des Lebens.

3. Der Körper

So wie unser Körper ohne die Anziehungskraft der Erde schwerelos ist, ist vielleicht auch unser Ich ohne die Schwerkraft der Zeit schwerelos.

In der Verbindung mit dem Körper kann sich das Gewicht unserer Schmerzen und Einschränkungen auf die Last der Gegenwart reduzieren.

In Verbindung mit der Gegenwart kann unser Körper unserer Seele Flügel verleihen.

In der Aufhebung unserer Ausrichtung nach Raum und Zeit können wir zu deren Kreuzungspunkt in der Mitte unseres Körpers finden.

Selbst die größte Erschöpfung findet ihre Ruhe in der Entspannung unserer Mitte.

Selbst ein Hauch von Freude kann im Raum des Körpers zu einer Symphonie werden.

Und die Liebe weiß um die verborgene Tiefe jeder noch so kurzen Berührung.

4. Bewegung

Leben ist Bewegung. Ruhe ist sich ordnende Bewegung.

Bewegung ist das Spiel unseres Körpers mit der Anziehungskraft der Erde.

Ruhe ist die Hingabe des Körpers an die nähernde Kraft der Erde.

Auf den Flügeln des Jetzt gleitet der Körper über die Wellen des Lebens.

In der Tiefe des Körpers begegnet das Ich dem Geheimnis des Lebens.

Niemand lehrt uns Bewegung und Ruhe besser als die Erde mit ihren Jahreszeiten,

ihren Elementen und ihren Geschöpfen.

Meine Yoga- und Zenmeisterin heißt Pischi.

Niemand lebt so ausschließlich im Jetzt.

Niemand bewegt sich so elegant und ruht so still in sich,

beherrscht so vollendet Konzentration und Loslassen

und genießt bis in jede Faser ihres Wesens wie unsere Katzen.

Und niemand verkörpert Lebensfreude und Liebe ausdrucksvoller als unsere Hunde.

5. Übung: Die Berührung der Elemente und der Tanz der Faszien

5.1.Die Berührung der Elemente

Spüre oder erinnere dich an das Streicheln des Windes oder des Wassers über deinen Körper, die Wärme der Sonne oder eines Feuers und die Weichheit oder Härte der Erde zwischen deinen Fingern oder unter deinen Füßen.

Lausche der Symphonie der Elemente.

5.2. Der Tanz der Faszien

Bewege deine Hände wie zu einer Musik und lausche ihrem Tanz.

Reibe sie gegeneinander und lausche ihrer Liebkosung an ihrer Oberfläche und in ihrer Tiefe.

Bewege dich immer wieder, manchmal auch nur in Gedanken, wie in Zeitlupe.

Nehme möglichst jede Faser deines Körpers, die mit dieser Bewegung verbunden ist, wahr.

Unsere Faszien laufen vorn und hinten von den Zehen zum Kopf und den Fingern,
kreuzen sich über Bauch und Brust und treffen sich alle in unserer Mitte, im Nabel.

Erlebe die innere Verbindung aller Faszien und ihre  Dynamik.

Steigere diese immer wieder bewusst im gesamten Faserverlaufs durch Anspannung, Dehnung. Tanzen oder Schaukeln.

Und lass jede Bewegung aus deiner Mitte entstehen:

“ Wie ein Tanz von Kraft aus einer Mitte, in der befreit  ein starker Wille steht”(nach Rilke)

Wenn der Fluss deiner Energie, deiner Gefühle oder deines Alltags ins stocken oder stolpern gerät, ziehe dich ein wenig zurück,

schau dir, wenn möglich, mit vor der Brust weit geöffneten Armen an,

wann du ihn verlassen oder dich für ihn verschlossen hast,

wo du es zu eilig hattest und mit deinen Gedanken woanders warst,

was dir zu viel war und was du nicht verarbeitet, sondern nur geschluckt hast.

Lass den Druck durch deine Arme in den Himmel oder durch deine Füße in die Erde abfließen. Spüre deinen Körper und komme zurück in deine Mitte.

6. Der Atem

Licht ermöglicht Leben. Atem verbindet das Leben und Pflanzen ordnen das Leben.

Im Spiel der Elemente verwandeln Pflanzen mit Hilfe des Lichts der Sonne Wasser und Kohlendioxid in organische Energie in Form von Zucker und Sauerstoff. 

Auf der nächsten Stufe bilden die Kraftwerke der Geschöpfe, die Mitochondrien, mit Hilfe des Sauerstoffs aus Nahrung und Körperfett unsere universelle Energiewährung, das ATP.

Der Atem verbindet uns sowohl mit allen Elementen der Erde, als auch mit allen Geschöpfen der Erde.

Jeder Atemzug, der je geatmet wurde ist Teil des Meeres, in dem wir atmen.

Jedes Gefühl, das je geatmet wurde, ist Teil des Meeres, in dem wir fühlen.

Wenn unsere Gefühle und unsere Körper uns in den Himmel tragen, geschieht dies auf den Flügeln des Atems. Und wenn sie uns nieder drücken, nimmt dies unseren Atem.

Jeder Gedanke, der je gedacht wurde, bekam seine Kraft vom Atem.

Jede Vorstellung und jedes Gegenüber, mit dem wir uns bewusst oder unbewusst über den Atem verbinden, wird Teil unseres Seins.

Wenn die Brandung des Atems, uns zwischen den Ufern des Körpers und des Himmels wiegt, berühren wir das Geheimnis des Seins.

7. Übung: Die Welle des Atems

Öffne dich der Welle des Atems mit deinem ganzen Körper.

Lass Kraft und  Licht in deine Mitte fließen.

Lass sie im Wendepunkt der Welle zu Feuer verschmelzen und sich im Rückzug der Welle in deinem ganzen Körper ausbreiten.

Atme auch immer wieder den Kreis der Energie: Atme von der unteren Spitze deines Steißbeins die Wirbelsäule hoch bis über den Kopf und vorne in der Mitte deines Leibes wieder herunter.

Verbinde dich über den Atem bewusst mit deinem Gegenüber, einem Menschen, einer Pflanze, einer Landschaft oder einem Zielt.

8. Das Du

Durch bewusste Verbindung mit unserem Gegenüber entsteht das Du.

Es kann ebenso in jedem Gegenstand, in jedem Lebewesen, jedem Aspekt des Lebens,

wie auch im Leben selbst entstehen und seine Tiefe kann so unermesslich sein wie das Leben selbst.

Wie wir diesem Du begegnen, entscheiden wir in Abhängigkeit von unserer körperlichen Verfassung, unserer gegenwärtigen Lebenssituation, der Abwesenheit von alten Sichtweisen, der Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit, unserer inneren Sammlung, der Öffnung und Sehnsucht unseres Herzens und der Reinheit und Tiefe unserer Verbindung mit dem Jetzt. Wir entscheiden, wie wir unserem Partner, unseren Kindern oder Eltern, unseren Freunden oder Nachbarn, dem Passanten auf der Straße, dem Obdachlosen oder dem Heimatlosen begegnen.

Wenn uns die Öffnung einseitig erscheint, wie zu einem Baum, einer Landschaft, einem Kunstwerk oder einer Musik, meinen wir die Tiefe selbst zu bestimmen und vergessen dabei das Du des Lebens.

Wenn sie gegenseitig ist, erkennt jedes Du in einem Augenblick die Tiefe der gegenseitigen Öffnung. Manchmal bleibt von der Begegnung eines Augenblicks ein Nachklang, aber er verklingt und das Leben geht, bereichert um diesen Klang, weiter.

Wenn das Leben selbst das Du ist, dem wir uns öffnen, erahnen wir den Ursprung und die Tiefe all der Begegnungen und ihrer Klänge. Wir spüren ihre Resonanz in unserer Sehnsucht und in der Stille unserer Mitte und erkennen sie im Fluss unseres Lebens.

Wenn uns dieses Du beschenkt und wir uns in seine Geheimnisse und seine Tiefe versenken, fühlen wir uns mit dem Leben verbunden.

Wenn uns seine offensichtliche Abwesenheit mit Schwierigkeiten konfrontiert, erleichtert es uns, diese als Gelegenheit zum Wachsen und Lernen anzunehmen.

Und wenn wir das Chaos, die Grausamkeit, Ungerechtigkeit und das Leid auf unserer Welt betrachten, erahnen wir vielleicht den Zusammenhang mit unserer verlorenen Mitte.

Wir entscheiden immer wieder neu, ob wir uns mit unserer Mitte verbinden und der Stille in uns Raum geben.

Wir entscheiden, ob wir zur Seite treten und dem Du als unserem Selbst in unserer Mitte Raum geben.

Wir entscheiden, ob wir in unsere Mitte treten und dem Du im Fluss des Lebens begegnen.

Wir entscheiden, wie wir damit umgehen, wenn wir nicht mehr im Fluss sind oder der Fluss uns mit Hindernissen konfrontiert.

Wir entscheiden, ob wir unserem Gegenüber im Fluss des Lebens begegnen oder den Fluss auf unser inneres Du beschränken.

Wir entscheiden, ob wir immer wieder versuchen, unser inneres Du mit dem Äußeren in Einklang zu bringen.

Wir entscheiden, wie wir uns selbst in unserer Schwäche, unserem Schmerz, unserer Angst und unserer Leere begegnen und ob wir sie dem Fluss des Lebens anvertrauen.

Wir entscheiden, ob wir dabei unserer Mitte und dem Fluss des Lebens treu bleiben.

Wir entscheiden, ob wir uns der Führung und der Kraft der Stille in unserer Mitte anvertrauen.

Und jede dieser Entscheidungen treffen wir in jedem Augenblick neu.

9. Übung: Entscheidungen, Liebe und das innere Du

9.1.Entscheidungen

Stehe aufrecht und entspannt. Übergebe das Gewicht deines Körpers und jedes auftauchenden Gedankens der Anziehungskraft der Erde.

Spüre deinen Körper, deinen Kontakt zur Erde, deinen Atem und deine Mitte.

Stell dir jetzt eine offene Frage als dein Gegenüber vor und beobachte, ob dein Körper aus deiner Mitte heraus nach vorne, zu diesem Du hin, oder nach hinten, von ihm weg, gezogen wird.

9.2.Liebe

Richte jetzt deine Aufmerksamkeit auf die Liebe.

Kannst du sie in deinem Körper oder deiner Umgebung wahrnehmen?

Was steht ihr möglicherweise im Weg? Was behindert ihren Fluss?

Gebe dir selbst und deiner Umgebung soviel Liebe und Kraft, wie du in der Lage bist zu geben. Vielleicht schaffst du es, den Damm zu brechen, damit der Fluss der Liebe wieder frei fließen kann.

Genauso kannst du dich mit anderen Elementen oder Aspekten deines Wesens beschäftigen, mit Stille, Kraft, Friede oder Freude.

Atme dazu in deiner Vorstellung, die Kraft der jeweiligen Elemente oder Aspekte in deinen Bauch oder dein Herz und öffne ihnen dadurch den Fluss in deinen Körper.

9.3. Das innere Du

Du kannst es Gott nennen oder auch dein Selbst.

Vergleiche den Aufbau deiner Beziehung zu deinem inneren Du mit der Beziehung zu einem Musikinstrument. Was auch immer du von dir und deinem Leben in diese Beziehung gibst,

du bekommst ein Vielfaches an Bereicherung zurück.

Was anfangs sehr holprig wirkt, wird irgendwann virtuos.

Und irgendwann wirst du die Flöte, auf der das Leben spielt.